Die christliche Vergebung


■ Am 21. September steht im liturgischen Kalender der römisch-katholischen Kirche das Fest des hl. Apostels Matthäus. In der 3. Nokturn (Nachtwache) des Breviergebetes stehen da bei der betreffenden Lesung Ausführungen des hl. Kirchenlehrers Hieronymus, mit welchen er das Tagesevangelium Mt 9,9-13 etwas erläutert. Im Vers 9 des Evangeliums heißt es ja: “Als Jesus von dort weiterging, sah Er einen Mann mit Namen Matthäus an der Zollstätte sitzen. Er sagte zu ihm: ‘Folge mir!’ Der machte sich auf und folgte Ihm.”
Unter Anspielung darauf führt dann Hieronymus Folgendes interessanterweise aus: “Die anderen Evangelisten wollten aus Verehrung und Hochachtung vor Matthäus ihn nicht bei seinem gewöhnlichen Namen nennen, sondern nannten ihn Levi; er hatte nämlich einen doppelten Namen. Indes nach einem Ausspruch Salomons ist der Gerechte sein eigener Ankläger gleich zu Beginn seiner Rede; und an einer anderen Stelle heißt es: Bekenne deine Sünden; dann wirst du gerechtfertigt. Darum nennt der Apostel selbst sich Matthäus und Zöllner. Er will den Lesern damit zeigen, dass niemand am Heil zu verzweifeln braucht, wenn er sich zu einem besseren Leben bekehrt; denn er selbst wurde aus einem Zöllner gleich ein Apostel.”
Tatsächlich nennt der Evangelist Markus Matthäus nur „Levi“, als er dessen Berufungsgeschichte erwähnt (vgl. Mk 2,13f.). Und Lukas spricht ebenso entsprechend von einem „Zöllner namens Levi“ (vgl. Lk 5,27). Ja, offensichtlich hatte Matthäus mit der ausdrücklichen Nennung seines Hauptnamens, unter dem er von den anderen gewöhnlich erkannt und identifiziert worden ist, die Intention verfolgt, sich selbst bewusst öffentlich als einen Sünder darzustellen, der von Jesus Christus in dessen Nachfolge berufen worden ist, um nach der Art einer anschaulichen Katechese allen anderen Sündern zu zeigen, dass Gott barmherzig ist und bei der ehrlichen Umkehr zu Ihm sogar auch den bekannten und öffentlichen Sündern (als welche die Zöllner damals galten) die Vergebung ihrer menschlichen Schuld anbietet.
Niemand sollte also verzweifeln, ihm könnte wegen der Schwere der eigenen Schuld vor Gott und den Menschen vielleicht nicht vergeben werden, sondern jegliche Chance nutzen, um sich ganzheitlich Jesus zuzuwenden und ein neues Leben in der Gnade und Liebe Gottes zu beginnen! Er, Matthäus, einer der Zöllner, welche im Judentum von den sog. Gerechten möglichst gemieden worden sind, sei ja dafür das beste Beispiel.
■ In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus auch noch ein anderer Umstand höchst interessant und aussagekräftig, auf welchen Hieronymus ebenfalls verweist. Sagt er ja, dass Matthäus „gleich ein Apostel“ wurde! Also hat sich dieser ehemalige Zöllner nicht nur bekehrt und ist zu einem sog. regulären Jünger Jesu Christi berufen worden, von denen es ja nicht wenige gab. Nein, er ist von Jesus praktisch sofort von der Zollstelle sogar zum Apostel-Amt auserwählt worden! Wobei von dieser Auswahl der Zwölf Apostel durch Jesus in allen drei der betreffenden Evangelien gleich im jeweiligen nächsten Kapitel berichtet wird.
Damit erscheint die Güte, Liebe und Barmherzigkeit Jesu in einer solchen geistigen Höhe und Intensität, welche man sich menschlich gesehen wohl nicht hätte vorstellen können - ein Zöllner wird sogar zu einem der Zwölf Apostel berufen! Das übertrifft wohl die kühnste rein menschliche Vorstellungskraft. Es gibt also bei Jesus keine Vergebung 1., 2. oder 3. Sorte – eben in Abhängigkeit vom vorher mehr oder weniger schlimm geführten Lebenswandel. Auch keine etwaige „Vergebung light“ für die öffentlichen Sünder mit einem großen Bekanntheitsgrad, die dann eben weniger vergeben bekommen würden. Nein, vor Gott sind an sich alle Menschen gleich und haben somit grundsätzlich auch die gleiche Chance auf eine ganzheitliche Vergebung durch Ihn, sofern sie sich nur konsequent von ihrem falschen Weg abwenden und echt und aufrichtig Gott zuwenden!
Dieselbe Linie wie bei Matthäus verfolgte Jesus konsequent auch bei den übrigen Aposteln. In seinem 1. Korintherbrief führt Paulus aus, wie Jesus nach Seiner Auferstehung verschiedenen Aposteln erschienen ist. „Zu aller letzt ist Er auch mir erschienen, der ich doch gleichsam eine Missgeburt war. Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, nicht wert, Apostel zu heißen. Denn ich habe die Kirche Gottes verfolgt. Aber durch die Gnade Gottes bin ich, was ich nun bin. Seine Gnade, die mir zuteil geworden, ist in mir nicht unwirksam gewesen“ (1 Kor 15,8-10).
Paulus scheut sich also nicht, sich öffentlich sogar als eine „Missgeburt“ zu bezeichnen, weil er ja tatsächlich ein Verfolger der jungen Kirche war. Das erste Mal tritt er in Erscheinung, als bei der Steinigung des Erzmartyrers Stephanus „die Zeugen ihre Kleider zu den Füßen eines jungen Mannes mit Namen Saulus niederlegten“ (Apg 7,58). Stephanus wurde für seine Treue zu Jesus gesteinigt. „Saulus aber war mit seiner Ermordung einverstanden“ (Apg 8,1).
Und nun wird an dieser Stelle auch ganz genau die schwere Schuld des Paulus, des früheren Saulus, beschrieben: „An jenem Tag kam es zu einer großen Verfolgung der Kirche zu Jerusalem. Alle, mit Ausnahme der Apostel, wurden über das Land von Judäa und Samaria versprengt. … Saulus aber wütete furchtbar gegen die Kirche. Er drang in ihre Häuser ein, schleppte Männer und Frauen weg und warf sie in den Kerker“ (Apg 8,1-3).
Man versteht diese Worte unter einem bestimmten Blickwinkel in ihrer ganzen Tragweite noch besser, wenn man an den Verfasser der Apostelgeschichte denkt. Es ist „Lukas, der Arzt, von dessen enger Gemeinschaft mit Paulus die Briefe des gefangenen Apostels Zeugnis geben (Kol 4,14; Phm 24; 2 Tim 4,11). Diese Gemeinschaft nahm wohl ihren Anfang, da Paulus zusammen mit Barnabas um das Jahr 44 in Antiochien, der von der Tradition genannten Heimat des Lukas, wirkte und dort die erste heidenchristliche Gemeinde aufbaute (11,25f.). Wir verstehen so das auffallende Interesse der Apostelgeschichte am Weg und Werk des Heidenapostels.“ (Kürzinger, Josef, Die Apostelgeschichte. Patmos Verlag Düsseldorf 1978, I. Teil, S.9)
Somit dienten Lukas wohl gerade die entsprechenden Berichte und Predigten des Apostels Paulus als Quelle dessen, was Lukas dann in dieser Apostelgeschichte auch „zu Papier brachte“. Dies lässt darauf schließen, dass Paulus sich bei seiner seelsorglichen Tätigkeit vor allem selbst nicht schonte, sondern auch und gerade mit sich selbst hart ins Gericht ging und dabei auch da selbstkritisch und ohne falsche Scheu „Ross und Reiter“ beim Namen nannte! Sicher wollte er dadurch in pastoraler Hinsicht „die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Heilandes“ unterstreichen, der uns eben „nach Seinem Erbarmen errettet“ (Tit 3,4f.).
Und wiederum wurde er wie Matthäus trotz der vorherigen schwersten Vergehen von Jesus sogar in Seine Nachfolge als Apostel berufen! Der betreffende eindrucksvolle Bekehrungsbericht ist in Apg 9 nachzulesen. Da aber zu Beginn dieses 9. Kapitels praktisch noch deutlicher und schonungsloser die schwere Schuld von Paulus herausgestellt wird („Noch immer brannte Saulus vor Wut und Mordgier gegen die Jünger des Herrn. So trat er an den Hohenpriester heran und erbat sich von ihm Briefe an die Synagogen in Damaskus. Falls er Anhänger dieser Lehre dort treffe, wollte er sie, Männer wie Frauen, in Fesseln nach Jerusalem führen“ [Apg 9,1f.]), sollte offensichtlich umso mehr die unbegreifliche Liebe und alles überragende Barmherzigkeit Jesu Christi unterstrichen werden! Niemand solle also verzweifeln, wenn sogar einem solchen eifrigen Verfolger Jesu und der Kirche nicht nur vergeben wird, sondern er dann darüber hinaus sogar auch noch (aus menschlicher Sicht unbegreiflicherweise) zum Apostel desselben Jesus berufen wird!
■ Als dritter in diesem Bund erscheint Petrus. Als Jesus vor den Hohen Rat geführt wurde, saß Petrus ja „draußen im Hof“. Er wird dreimal von zwei Mägden und den „Umstehenden“ darauf angesprochen, dass er ja offensichtlich ebenfalls zu Jesus gehöre. Und alle drei Male verneint Petrus diese Fragen. Beim ersten Mal gibt er sich noch ahnungslos: „Ich verstehe nicht, was du sagst.“ Beim zweiten Mal „leugnete er mit einem Schwur: ‚Ich kenne den Menschen nicht!‘“ Beim dritten Mal fing er sogar an „zu fluchen und zu schwören: ‚Ich kenne den Menschen nicht.‘“ Daraufhin krähte, wie von Jesus vorher vorausgesagt, der Hahn. Petrus „ging hinaus und weinte bitterlich.“ (vgl. Mt 26,69-75.)
Im Unterschied zu Judas Iskariot hat Petrus seine Schuld praktisch sofort aufrichtig bereut. Er erhängte sich eben nicht ebenfalls in Verzweiflung, sondern vergoss Tränen aufrichtiger Reue! Und Jesus gab ihm in Seiner übergroßen Barmherzigkeit eine neue Chance. Nach Seiner Auferstehung fragte Er ihn nämlich dreimal: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?“ Petrus bejahte diese Frage jedes Mal: „Ja, Herr, Du weißt, dass ich Dich liebe.“ Und alle drei Male vernahm er dann von Jesus den Auftrag: „Weide Meine Schafe!“ (Joh 21,15-17.)
Petrus verleugnet Jesus dreimal. Wohl erschwerend kommt hinzu, dass dies auch noch ausgerechnet am dunkelsten Tag Jesu hier auf Erde geschieht. Jesus verzeiht ihm diese schwere Schuld. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass Jesus weder am betreffenden Tag noch jemals später sagt oder wenigstens irgendwie andeutet, Er würde Petrus dessen Vergehen noch irgendwie nachtragen. Nein, Vergebung bedeutet bei Jesus eine wirkliche Vergebung, ohne dass da in einer bestimmten Hinsicht, wenn auch nur in Gedanken, noch irgendetwas zurückbliebe! Die historische Tatsache, dass auch kein einziger der übrigen Apostel seine Berufung zum Apostelamt durch sein Verlassen Jesu und die Flucht während der Gefangennahme Jesu im Garten Getsemani (Mt 26,56) etwa verwirkte, zeigt, wie Jesus „Vergebung“ sowohl selbst interpretiert und praktiziert hat als auch von uns verstanden und gelebt wissen will – dass man danach auch in keiner Weise mehr etwa noch nachtragend wäre!
■ Im Gleichnis vom Unbarmherzigen Knecht beschreibt Jesus einen Knecht, der seinem König „zehntausend Talente schuldig war“. „Da fiel der Knecht ihm zu Füßen und flehte: ‚Herr, habe Geduld, mit mir, ich werde dir alles bezahlen.‘ Der Herr erbarmte sich jenes Knechtes, gab ihn frei und erließ ihm die Schuld“ (vgl. Mt 18,23-27.)
Man versteht, dass Jesus in diesem König das Wirken Gottes gesehen wissen will, der jedem „Knecht“ (als welchen wir uns ja alle ausnahmslos erkennen sollen!), der Ihn aufrichtig um Verzeihung bittet, letztendlich sogar voll, ganz und restlos dessen gesamte Schuld als solche erlässt. Das Problem ist aber, dass wir uns dann nicht selten wie dieser Unbarmherzige Knecht verhalten, der dann seinen eigenen Mitknecht, der ihm lediglich einen kleinen Bruchteil davon, nämlich „hundert Denare schuldig war“ (etwa 714.285 Mal weniger!), „gepackt“ und „gewürgt“ und von ihm kategorisch die sofortige und volle Erstattung dieser winzigen Schuld verlangt hat. Dabei ließ er sich auch nicht von der Bitte des betreffenden Knechtes erweichen, der ihn um einen zeitlichen Aufschub der Bezahlung dieser vergleichsweise sehr geringen Schuld bat, sondern ließ ihn hartherzig „in den Kerker werfen, bis er die Schuld bezahlt hätte.“ (vgl. Mt 18,28-30.)
So lässt dann Jesus jenen König (offensichtlich auch an unser aller Adresse) sagen, nachdem ihm von den anderen Knechten von dieser Hartherzigkeit dieses Knechts berichtet wurde: „Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie ich mich deiner erbarmt habe?“ Zugleich fügt Jesus hinzu: „Voll Zorn übergab ihn sein Herr den Folterknechten, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte. So wird auch mein himmlischer Vater mit euch verfahren, wenn nicht ein jeder von euch seinem Bruder von Herzen verzeiht.“ (vgl. Mt 18,31-35.)
Werden denn nicht auch wir immer wieder mit der Haltung konfrontiert – ob wir sie bei anderen beobachten oder selbst eine entsprechende Versuchung erfahren –, dass man den, der sich gegen einen selbst versündigt und ihn schwer beleidigt hat, überhaupt nicht an sich selbst heranlassen will und ihn somit tunlichst meidet, weil man auf diese Weise irgendwie auch verhindern möchte (wenn auch nur im Unterbewusstsein), dass der Schuldige überhaupt eine Chance erhalte, seine Schuld einzugestehen und sich aufrichtig zu entschuldigen. Möchte man ja so gern seine eigene eingefahrene und „bequeme“ Meinung von der Schlechtigkeit des anderen möglichst weiter kultivieren! So kann man sich dann auch selbst umso leichter für einen „Gerechten“ halten und muss weniger darüber nachdenken, ob man selbst vielleicht sogar einen größeren Anteil an der Verursachung des betreffenden Problems hat, weil man den anderen etwa durch eigenes vorausgehendes nicht unbedenkliches Verschulden erst provoziert hat, so dass der andere dann in seiner menschlichen Schwäche darauf leider überzogen reagiert hat.
Oder wir sagen zwar, wir würden dem uns aufrichtig um Vergebung Bittenden vergeben und die Sache somit anstandshalber auf sich ruhen lassen. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit bringen wir diese Angelegenheit aber doch ins Gespräch (auch mit dritten Personen) und zeigen damit an, dass wir weder wirklich vergeben noch vergessen haben!
Oder wir grollen nach der verbalen Erteilung der Vergebung weiterhin gegen den betreffenden Menschen im Inneren, obwohl er seine Schuld ehrlich eingesehen und tätige Werke einer echten Reue an den Tag gelegt hat. Wir kommen nicht zur Ruhe und suchen – wenn auch nur in Gedanken und unbewusst – nach Gründen, den betreffenden Menschen doch noch als eine Art Bösewicht ansehen und darstellen zu können! Mit christlicher Vergebung, im Sinne Jesu „von Herzen“, hat das wohl nichts zu tun.
Oder wir sagen zwar, wir würden einem reuigen Menschen vergeben, fügen dann aber auch gleich hinzu, unser Vertrauen in diesen Menschen sei trotz seiner aufrichtigen Vergebungsbitte insofern erschüttert, dass man selbst ihm nicht mehr oder nicht wieder wirklich vertrauen könne. Nun, Jesus hat sowohl im obigen Gleichnis als vor allem auch in Seinem Umgang mit dem betreffenden Versagen der Apostel gezeigt, dass die Vergebung im christlichen Sinn erst dann ihren Namen verdient, wenn sie auch noch von dem Wiedergewähren des in der Zwischenzeit durch die falsche Tat verlorengegangenen Vertrauens begleitet wird! Es soll kein bitterer Satz an Missgunst zurückbleiben, kein Rest von irgendwelcher innerer Feindschaft oder geistiger Gegnerschaft.
Wenn wir zur Beichte gehen und dort aufrichtig unsere Schuld bekennen, wird uns ja durch den Priester die Vergebung unserer Sünden im Namen des Dreifaltigen Gottes geschenkt. Zwar bekommen wir dann noch eine sakramentale Buße auferlegt und müssen sie verrichten, um die zeitlichen Strafen für unsere Sünden abzubüßen. Aber es wird uns von Gott dennoch eine vollständige und als solche eine restlose Vergebung gewährt – ohne irgendeinen Rest an Missgunst oder sogar Rachegelüsten! Wir bekommen wieder das volle Vertrauen Gottes geschenkt – eben wirklich eine neue Chance, uns vor Ihm bewähren zu können und zu dürfen.
Umso tragischer dann, wenn wir selbst aber unseren Mitmenschen nicht dieselbe vollständige Vergebung der gegen uns im viel geringeren Umfang vorliegenden Schuld gewähren sollten! Am Beispiel eines Priesters kann man dieses ganze Drama besonders deutlich anschaulich machen. Man nehme an, dem Priester wird u.a. auch eine gegen ihn persönlich begangene Sünde gebeichtet. Wie könnte dann dieser Priester dem Beichtkind zwar eine vollständige und restlose Vergebung im Namen Gottes gewähren (im und durch das Sakrament der Beichte), selbst aber, auf der persönlichen Ebene, dem Pönitenten weiterhin irgendwie grollen oder ihm das Vertrauen verwehren?
Natürlich kann nach schweren Verletzungen emotional noch Zeit gebraucht werden, um alles zu verarbeiten und eben emotional zu „verdauen“. Ist ja der Mensch kein Roboter, sondern mit einer Psyche und Gefühlen ausgestattet, die eben verletzt werden können. Aber dennoch sollte von Anfang an ein Wille und somit eine klare Tendenz vorhanden sein, dass man unbedingt im christlichen Sinn voll und ganz vergeben wolle, dann sich aber vielleicht noch eine gewisse Zeit erbitte, bis man auch emotional sozusagen zur normalen Tagesordnung zurückkehren könne.
Denn wenn man verinnerlicht, wie hart Jesus in jenem Gleichnis mit dem Unbarmherzigen Knecht ins Gericht gehen lässt, kann man annehmen, dass die Verweigerung einer vollen und echten Vergebung unter Umständen mindestens der Schwere der ursprünglichen falschen Tat gleichgestellt werden könnte! „So wird auch mein himmlischer Vater mit euch verfahren, wenn nicht ein jeder von euch seinem Bruder von Herzen verzeiht.“
Man vergesse nicht, dass die tatsächliche Gewährung einer solchen vollen und restlosen Vergebung auch sehr hilft, das eigene Gewissen weiter positiv zu schärfen! Es ist wohl kaum zufällig, dass ein Mensch, der nicht bereit und nicht willens ist, anderen eine echte und vollständige Vergebung zu schenken, oft genug gerade der ist, der in seiner fehlenden und eben nicht hinreichend geübten Sensibilität nicht merkt, wie sehr er selbst anderen Menschen „auf die Füße tritt“ und bei ihnen Verletzungen verursacht. Solche Menschen fallen auch dadurch auf, dass sie auch beim eigenen klaren Erkennen des betreffenden eigenen Fehlverhaltens meistens wegen Stolz nicht bereit und nicht willens sind, den eigenen Fehler zuzugeben und somit überhaupt selbst andere entsprechend aufrichtig um Vergebung zu bitten!
Der hl. Matthäus und die anderen Apostel schreckten aber in ihrer Ehrlichkeit vor Gott und den Mitmenschen nicht davor zurück, sogar auch ihr schwerwiegendes Fehlverhalten öffentlich zu bekennen. Deswegen erhielten sie aber durch die ihnen gewährte ganzheitliche Vergebung durch Jesus auch den tiefsten Frieden des Herzens, den sie dann in ihrer apostolischen Tätigkeit auch vielen anderen Menschen vermitteln konnten und durften. Denn letztendlich nur ein Mensch, der sowohl bereit ist, seine eigene Schuld ohne falsche Scheu einzugestehen und zu bekennen, als auch willens ist, bei entsprechenden Bitten anderen Menschen eine echte und wirkliche Vergebung zu gewähren, findet erst im eigentlichen Sinne des Wortes zu Gott und erfährt ein solches beseligendes Maß an übernatürlichen Gnaden und an geistlichem Trost, welches ihn u.a. auch über jegliches in diesem Zusammenhang erfahrende menschliche Unbehagen bei weitem mehr als nur entschädigt!
Denn Gott ist in Jesus Christus in diese Welt gekommen, damit wir „der Gewalt der Finsternis entrissen und in das Reich seines geliebten Sohnes versetzt (werden). In Ihm haben wir die Erlösung durch Sein Blut, die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,13f.). Und wie wir durch diese Seine Vergebung mit der gnadenhaften Teilhabe am ewigen Leben, dem Leben mit dem unsterblichen und sich erbarmenden Gott, beschenkt werden, sollen auch wir selbst bereit sein, auch unsererseits sogar gern die berühmte christliche Vergebung „von Herzen“ zu schenken, wenn wir nämlich treue Jünger Jesu werden, sein und bleiben wollen. Denn „ein Gericht ohne Erbarmen ergeht über den, der kein Erbarmen geübt hat. Barmherzigkeit dagegen triumphiert über das Gericht“ (Jak 2,13). „Selig die Barmherzigen! Sie werden Barmherzigkeit erlangen!“ (Mt 5,7.)
Somit kann es im Sinne Jesu keine echte und wahre Liebe ohne Barmherzigkeit und Versöhnung geben - ohne wenigstens eine aufrichtige Versöhnungsbereitschaft und einen ehrlichen Versöhnungswillen! Und sollten wir in dieser Hinsicht noch emotionale Schwierigkeiten haben, beten wir bewusst um die dann zuerst gerade uns erlösende Gnade, Vergebung wirklich gewähren zu können!

P. Eugen Rissling

Zurück Hoch Startseite